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Die Geschichte von Rozalia Genza und ihrem Sohn Zbyszek

Im letzten Kriegssommer, am 12. Juni 1944, kommt in der Landesfrauenklinik Celle ein Kind zur Welt, ein kleiner Junge. Seine Geburtsurkunde wird im Standesamt der Stadt mit der Nummer 1191 des laufenden Jahres eingetragen, er bekommt von seiner Mutter den Namen Zbyzsek, eine Form des polnischen Vornamens Zbigniew, was von der Wortherkunft bedeutet: ‚Der sich befreit von seinem Zorn’ – sein voller Name lautet: Zbyszek Genza.

Die Geburtsurkunde von Zbyszek wird später den Vermerk ‚Russisch’ bekommen, er trägt einen polnischen Vornamen, aber die Sache ist noch etwas komplizierter, denn seine Mutter ist in Kozyna geboren, einem Ort im Westen der heutigen Ukraine, zwischen den Städten Ternopil und Lwiw, auch bekannt als Lemberg. Ternopil wird zu dieser Zeit meist Tarnopol genannt, und tatsächlich haben diese Orte im Laufe ihrer bewegten Geschichte Namen in unterschiedlichsten Sprachen bekommen, denn die Region Ostgalizien, in der sie sich befinden, ist eine Gegend, in der sich über Jahrhunderte die politischen Verwerfungen Europas abbilden.

Als Rozalia Genza, die Mutter von Zbyszek, am 22. September 1922 geboren wird, ist die Region um Kozyna erneut heftig umstritten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung Österreich-Ungarns kämpfen Polen und die Ukraine um das Gebiet, zugleich wächst der Einfluss der gerade entstandenen Sowjetunion. Auf der Pariser Friedenskonferenz im Winter 1919 wird Ostgalizien schließlich für eine Dauer von 25 Jahren Polen zugeschlagen, danach ist geplant, ein Referendum abzuhalten; doch dazu wird es nie kommen.

Rozalia Genza wächst in einer eher ländlich geprägten Gegend auf, die Familie hat es ob der unruhigen Zeiten nicht leicht. Sie ist Sechzehn Jahre alt, als mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg beginnt.

Ein Jahr später ist Polen längst aufgeteilt in Deutsches Reichsgebiet und das sogenannte Generalgouvernement, dem besetzten Südosten Polens. Deutschland führt inzwischen an mehreren Fronten Krieg, immer neue Wellen von Einberufungsbescheiden holen mehr und mehr Männer an die Waffen.

Um den massiven Verlust von Arbeitskraft zu kompensieren, ist schon mit Kriegsbeginn ein System entwickelt worden, dass Kriegsgefangene und politische Häftlinge zu diesem Zweck ausbeutet. Vor allem aber werden aus den sogenannten „Ostgebieten“ unzählige Menschen deportiert und zu Zwangsarbeitern gemacht, insgesamt geraten während des Krieges über 20 Millionen Menschen im Deutschen Reich und den eroberten Gebieten in Zwangsarbeiterschaft. Sie werden überall eingesetzt, in Rüstungsbetrieben ebenso wie in der Landwirtschaft, auf Baustellen, im Handwerk oder in Privathaushalten.

Auch der Familie von Rozalia wird nun mitgeteilt, dass ein Mitglied der Familie zur Arbeit ins Reich geschickt werden muss. Eigentlich soll ihr älterer Bruder fortgehen, aber er ist schon verheiratet und hat Familie – und so beschließt Rozalia, an seiner Statt die Heimat zu verlassen und sich ins Unbekannte aufzumachen; sie ist 17 Jahre alt, als sie deportiert wird.

Mehrere Wochen später kommt sie an ihrem Bestimmungsort an, einem kleinen Bauerndorf in Niedersachsen Namens Ramlingen. Die Landwirte dort haben Anträge bei der Landesbauernschaft auf Arbeitskräfte gestellt, und melden die bei ihnen Tätigen bei der Landeskrankenkasse an, damit diese im Falle eines Arbeitsunfalls versichert sind und ihnen keine zusätzlichen Kosten verursachen.

Ramlingen hat zu dieser Zeit etwa 600 Einwohner, von denen jedoch viele als Soldaten an der Front sind. Deshalb gibt es bald auch hier wie in jedem Dorf in der Umgebung überall sogenannte Ostarbeiter, nur eine kleine Zahl der Arbeitskräfte sind Kriegsgefangene, zum Beispiel aus Belgien oder Frankreich. Die allermeisten sind Polen, dann Ukrainer, später auch sehr viele Russen. Insgesamt finden sich in den Listen der Landeskrankenkasse für Ramlingen und Ehlershausen über 160 Namen.

Jeder Hof in Ramlingen beschäftigt Zwangsarbeiter, mit einer Ausnahme: Der Bauer Max Fodimann erhält von der Landesbauernschaft keine Genehmigung für Arbeitskräfte, er und seine Familie müssen versuchen, den Hof allein zu betreiben.

Die vielen Zwangsarbeiter in Ramlingen haben keinerlei Rechte, sie werden nach dem Ermessen ihrer Arbeitgeber entlohnt und nach deren Gutdünken behandelt. Offiziell sollen Deutsche möglichst gar keinen Kontakt zu diesen Ostarbeitern haben, sie sind nach der nationalsozialistischen Ideologie keine gleichwertigen Menschen.

Rozalia Genza ist mit mehreren anderen Arbeitern und Arbeiterinnen auf einem der Höfe beschäftigt, und sie hat Glück: Sie lebt und arbeitet unter erträglichen Umständen und wird gut behandelt. Aber sie ist auch noch sehr jung und vermisst ihre Familie, besonders ihre Mutter. Jahre später wird sie in ihren Erinnerungen über diese Zeit schreiben:

Manchmal weine ich, weil ich meine Mutter nicht mehr sehen werde. Und meine Mutter wird mich nicht mehr sehen, wird mir nicht mehr die Tränen abwischen wie früher, weil ich in eine ferne Welt gegangen bin.

Die Kriegszeiten sind auch in Ramlingen nicht leicht, erst recht nicht für die Zwangsarbeiter. Aber während der Feldarbeit lernt Rozalia einen jungen Mann kennen, einen Polen namens Leon Filipiak, und freundet sich mit ihm an. Sie treffen sich einmal, dann öfter, und werden in dieser schweren Zeit schließlich ein Paar. Wie heimlich diese Beziehung gelebt werden muss ist schwer zu sagen, aber sie ist nach offizieller Lesart nicht nur nicht gern gesehen, sie ist verboten.

Als Rozalia dann schwanger wird und im Juni 1944 in Celle ihren Sohn Zbyszek zur Welt bringt, hat sie erneut Glück: Es ist ihr möglich, mit dem Kind auf dem Bauernhof zu leben, ein Umstand, der alles andere als selbstverständlich ist: Zu dieser Zeit müssen zahllose Zwangsarbeiterinnen ihre neugeborenen Kinder in sogenannte „Ausländerkinder-Pflegestätten“ abgeben. Es gibt diese auch hier ganz in der Nähe, eines in Großburgwedel, ein anderes in Papenhorst. Dort werden die Neugeborenen oft nur wenige Wochen oder Monate alt, sie sterben durch völlige Vernachlässigung, mangelnde Pflege und Unterernährung. Es ist ein organisierter, vorsätzlicher Massenmord an Kindern, und eins der dunkelsten Kapitel dieser Zeit.

Rozalia jedoch kann mit ihrem kleinen Sohn auf dem Ramlinger Hof leben, sogar Zbyszeks Vater Leon ist es vermutlich möglich, Zeit mit ihm verbringen.

Aber dann kommt der Herbst, und die Kälte. Zbyszek erkrankt an Lungenentzündung, er wird von immer stärkeren Fieberkrämpfen geschüttelt – und stirbt schließlich in der Nacht des 6. November 1944. Er ist vier Monate alt.

Am nächsten Tag meldet die Bäuerin seinen Tod beim Bürgermeister, der zugleich der Standesbeamte ist; Heinrich Bähre stellt am 07.11. die Sterbeurkunde aus. Auf dem Hof wird ein Begräbnis organisiert, es ist nicht viel Zeit, aber mehrere Menschen sind bei Rozalia und Leon, und begleiten sie auf diesem wohl schwersten aller Wege, dem zu Grabe tragen des eigenen Kindes.

Foto der Beerdigung am 7. November 1944

Zbyszek wird auf dem Ramlinger Friedhof beerdigt, nur etwa zwanzig Meter vom Denkmal entfernt; es ist eine schmucklose Grabstelle ohne Grabstein.

Fünf Monate später wird direkt daneben ein weiteres Grab ausgehoben, für ein kleines Mädchen Namens Christa. Sie ist ebenfalls ein Kind von Zwangsarbeitern in Ramlingen, dem Ehepaar Wladislawa und Franczek Sokol, die auf dem Hof schräg gegenüber von Rozalia beschäftigt sind. Christa stirbt wenige Tage nachdem die Alliierten Truppen in Ramlingen angekommen sind, am 28. April 1945; sie wird wie Zbyszek nur vier Monate alt.

Die beiden Kindergräber sind wohl noch bis in die 50er Jahre hinein sichtbar, danach werden sie eingeebnet und vermutlich überbettet. Aber ihre Lage ist durch eine 1946 angefertigte Skizze des späteren Bürgermeisters Erich Bähre recht genau zu bestimmen.

Rozalia erlebt das Kriegsende in Ramlingen auf dem Bauernhof, bis zum 31. Mai 1945 sind sie und Leon dort bei der Landeskrankenkasse gemeldet. Dann verlassen sie das Dorf. Keiner von beiden wird an diesen Ort zurückkehren, an dem sie fast fünf Jahre ihres Lebens verbracht haben, und wo ihr Sohn begraben liegt.

Nach dem Ende des Krieges machen sich Rozalia und Leon auf den Weg zurück in Richtung Heimat, ohne zu wissen, wo diese eigentlich liegt oder was sie dort erwarten könnte.

Zunächst aber stranden sie in einem Flüchtlingslager in Hänigsen, von den Anwohnern abfällig als „Polenlager“ bezeichnet, wo sie mehrere Monate verbringen. Und in dieser Zeit bekommt Rozalia ein zweites Kind, ihre Tochter Wanda, die am 8. Oktober 1945 geboren wird.

Die Not und die Wirren der Nachkriegszeit sind gewaltig, und das Schicksal, das hinter ihnen liegt wiegt wohl ebenso schwer wie die Gedanken an den langen und steinigen Weg zurück in Richtung Heimat. Aber die Geburt von Wanda ist in dieser schwierigen Zeit womöglich wie ein Wunder, das den jungen Eltern Kraft gibt und sie mit neuem Lebensmut erfüllt – und vielleicht auch ein Zeichen für eine gemeinsame Zukunft, die angesichts der Gegenwart nur schwer vorstellbar ist.

Rozalia und Leon schaffen es. Auf vielen Umwegen gelangen sie 1947 nach Wierzbice, einem Dorf südlich von Breslau, wo sie einen kleinen Bauernhof beziehen können. Dort beginnt ein neues Leben als Familie, mit ihrer Tochter Wanda. Und dann auch mit Krysia, Ula, Bozenka, Janusz, Andrzej und Marzenka, und schließlich führen die beiden ein oft nicht leichtes, aber glückliches Leben mit sieben Kindern auf ihrem Bauernhof.

Leon stirbt im Alter von 85 Jahren nach einem erfüllten Leben. Rozalia Filipiak, geborene Genza aber stirbt erst im Jahr 2023, im Alter von 101 Jahren – als Mutter von sieben Kindern, Großmutter von 14 Enkeln und Urgroßmutter von 20 Urenkelkindern.

(Text: Sven Voigt)