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Die Feldpostkarte

Die Geschichte zweier Namen auf dem Ramlinger Gefallenendenkmal, erzählt anhand einer Feldpostkarte.

Lieber Wilhelm, Wie geht es dir? Hier ist alles in Ordnung, wir sind alle beim Kartoffelroden. Eingezogen werden hier keine mehr, es wird wohl bald zu Ende sein mit dem Krieg. Es grüßt Friedrich, Fritz und Frau – Bitte schreib bald mal wieder – auf Wiedersehen.

Die Karte schreibt der siebzehnjährige Friedrich Schönemann am 25. September 1939 an seinen Freund Wilhelm Könecke, der vor kurzem in die Armee eingezogen wurde.

Die Schönemanns wohnen in Ramlingen Nr. 60, dem ersten Haus links an der heutigen Vizestraße. Der Hof der Familie Könecke, den Wilhelm als Sohn einmal übernehmen soll, befindet sich im Gehrbergsweg, nur einige Meter entfernt.

Vorn auf der Karte finden sich die Sehenswürdigkeiten des Heimatdorfes: Die alte Kapelle, das Kaufhaus Reuße, das Gasthaus Voltmer; das vor einigen Jahren auf dem neuen Friedhof errichtete Denkmal für die Gefallenen des Weltkriegs.

Es ist noch nicht der „erste Weltkrieg“, denn dass der erst vor wenigen Wochen erfolgte Überfall auf Polen am 1. September der Beginn eines fast sechsjährigen Infernos ist, der später der „zweite Weltkrieg“ genannt werden wird, ist noch niemandem klar.

Vier Wochen ist der Krieg alt als Friedrich, genannt Friedel, an Wilhelm schreibt, auch die Familie grüßt den gerade Soldat gewordenen 24jährigen.

Wilhelm hat vermutlich Gelegenheit zurückzuschreiben. Zur dieser Zeit ist er mit seinem Regiment bei Braunschweig stationiert. Bald darauf wird er am Feldzug gegen Frankreich, dem verhassten Erbfeind, teilnehmen. Es dauert nicht lange, die Franzosen kapitulieren rasch, die hastig gegründete Vichy-Regierung wird bald mit dem NS-Regime kollaborieren.

Aber ein knappes Jahr später folgt im Sommer ein neuer Einsatzbefehl, und diesmal geht es nach Osten. Deutschland beginnt mit dem Überfall auf die Sowjetunion, dem sogenannten Unternehmen Barbarossa, einen unvergleichlich brutalen Vernichtungskrieg, der vielen Millionen Menschen das Leben kosten wird.

Die Wehrmacht rückt dank schneller militärischer Erfolge mit großem Tempo in Richtung Osten vor. Aber noch bevor die erste große Schlacht geschlagen ist, fällt Wilhelm Könecke als Obergefreiter des 8. Artillerie-Regiments, Abteilung 171 am 11. August 1941. Er ist 26 Jahre alt.

Tausende Soldaten fallen in diesen Tagen, und er wird wie viele andere in einem behelfsmäßigen Grab an einem Waldrand bestattet. Die Wehrmacht zieht weiter Richtung Moskau, der Krieg wird noch fast vier Jahre andauern. Dreieinhalb Millionen deutscher Soldaten kommen während des Feldzugs gegen die Sowjetunion ums Leben, unfassbare 27 Millionen Soldaten und Zivilisten sterben auf sowjetischer Seite.

Der Leichnam von Wilhelm wird nach einigen Monaten noch einmal umgebettet, auf eine sogenannte „Sammelanlage“ namens Theofania, einem provisorischen Soldatenfriedhof der Wehrmacht einige Kilometer nördlich  des Ortes, an dem er fiel. Dort ruhen insgesamt knapp 1200 Soldaten.

Zehn Jahre nach Ende des Krieges, am 12. Juni 1955 werden die Gedenktafeln für die Gefallenen und Vermissten des 2. Weltkriegs am Denkmal auf dem Ramlinger Friedhof geweiht. Hier findet nun auch der Name Wilhelm Köneckes seinen Platz – an dem Denkmal, das auf der Vorderseite einer ersten an ihn geschriebenen Ansichtskarte als Soldat abgebildet war.

Vier Jahrzehnte später wird Wilhelm seine letzte Ruhestätte finden: An einem zentralen Gedenkort südwestlich von Theofania, den der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach dem Zerfall der Sowjetunion einrichtet., um ein zentrales Gedenken vor Ort zu ermöglichen. Dort liegen inzwischen 26.000 Soldaten; die Umbettung ist nicht abgeschlossen.

Das Projekt, das der Volksbund Mitte der 90er Jahre begann mit dem Ziel, so viele gefallene Soldaten wie möglich an fünf zentrale letzte Ruhestätten und Gedenkorte zu verbringen, muss im Februar 2022 gestoppt worden. Ein Krieg macht die Fortführung bis auf weiteres unmöglich.

Denn Wilhelm Könecke ist in der Ukraine gefallen, nur wenige Kilometer südlich von Kiew. Der provisorische Soldatenfriedhof Theofania befindet sich heute im erweiterten  Stadtgebiet, und der vom Volksbund eingerichtete zentrale Gedenkort liegt etwa 25 Kilometer südwestlich des Stadtzentrums.

Die Tatsache, dass dort, wo vor 80 Jahren Wilhelm Könecke und unzählige andere hastig begraben wurden, in unserer Gegenwart erneut in aller Eile Gräber ausgehoben werden, um Männer, Frauen und Kinder zu bestatten, die in einem blutigen Krieg getötet werden, schafft eine Verbindung und eine Dringlichkeit, die bis vor kurzem nur schwer vorstellbar war.

Wie es dem Verfasser der Ansichtskarte, dem jungen Friedel Schönemann in den drei Jahren nach dem Tod von Wilhelm Könecke ergangen ist, ist noch nicht ausreichend erforscht. Aber in den letzten Monaten des Krieges, am 30. Januar 1945, fällt auch er, während der Rückzugsgefechte der Deutschen Wehrmacht bei Gut Rosenau in der Nähe von Wormditt (poln.: Orneta) im heutigen Polen. Seine Eltern und seine Verlobte werden vier Jahre lang in Ungewissheit über sein Schicksal leben, bis endlich bestätigt wird, wo und wann er gefallen ist.

Auch Friedrichs Name findet sich auf dem Denkmal, einige Zeilen unter dem seines Freundes Wilhelm.

(Text: Sven Voigt)